„Oh Gott, sie schreit wieder. Die dritte Nacht in Folge…“
„Leise, meine Liebe, leise. Sie könnten uns hören.“
Die alte Wohnung begrüßte mich mit dem Duft von Lavendel und der Patina vergangener Zeiten.
Ein typisches Museum der Sowjetära – Teppiche an den Wänden, Kristall im Schrank und unzählige Fotos, Fotos, Fotos. Ehrlich gesagt, war ich etwas nervös, als ich über die Schwelle trat.
Nach der Gemütlichkeit meiner kleinen Provinzstadt erschien Petersburg wie eine uneinnehmbare Festung, und diese Wohnung – ein eigenes Fürstentum mit eigenen Gesetzen.
„Kommt rein, tretet nicht auf der Schwelle,“ ertönte eine kratzige Stimme.
Elisabeth Sergejewna saß im Sessel wie eine Königin auf ihrem Thron. Der Rücken gerade, die grauen Haare perfekt frisiert, der scharfe Blick unter der Brille. Offensichtlich keine der Omas, die Kuchen backen und Socken stricken.
„Alena,“ stellte ich mich vor und versuchte, ruhig zu klingen. „Wir haben telefoniert…“
„Ja, ja, ich erinnere mich,“ winkte sie ab. „Kommen wir gleich zum Punkt. Kochen können Sie?“
„Ja, natürlich.“
„Und Borschtsch?“
„Auch Borschtsch.“
„Hm,“ sie schielte mich prüfend an. „Die letzte junge Dame meinte, Borschtsch sei einfach eine Suppe mit Kohl und Rüben. Können Sie sich das vorstellen?“
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Vielleicht war sie doch nicht so grimmig?
„Meine Großmutter würde mit einer Pfanne hinter ihr herlaufen, wenn sie so etwas gesagt hätte.“
„Genau!“, funkelte Elisabeth Sergejewna zustimmend. „Gut, also… der Plan ist einfach…“
Der erste Abend verlief ruhig. Ich bereitete das Abendessen zu und half Elisabeth Sergejewna, ihre Medikamente zu nehmen. Sie saß lange am Fenster und starrte in die Ferne.
Ich bemerkte einen Stapel Hefte auf dem Tisch, doch als ich mich ihnen näherte, verschwanden sie sofort in der Schublade.
Doch in der Nacht…
Ein Schrei zerriss die Stille wie ein Schuss. Ich sprang auf, noch benommen und orientierungslos. Ein weiterer Schrei, gefolgt von einem leisen Flüstern.
In Elisabeth Sergejewnas Zimmer brannte das Nachtlicht. Sie wälzte sich im Bett und zerrte an den Bettlaken.
„Das Brot… versteck das Brot! Die Kinder… sie finden es…“
„Elisabeth Sergejewna!“ Ich fasste sie vorsichtig am Arm.
Sie setzte sich abrupt auf, ihre Augen weit aufgerissen, aber sie sah hindurch.
„Leise…“ Ihre Stimme fiel fast zu einem Flüstern. „Sie sind da, direkt neben uns. Hörst du? Auf dem Schnee… knirsche, knirsche…“
Ich schaltete das Licht ein, und sie blinzelte, als sie zurück in die Realität fand.
„Was? Ach, das sind Sie…“ Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Entschuldigung. Das ist nur das Alter…“
„Soll ich Ihnen Wasser bringen?“
„Nein,“ schnitt sie ab. „Gehen Sie schlafen. Und schalten Sie das Licht aus.“
Ich kehrte in mein Zimmer zurück, konnte jedoch nicht schlafen. Etwas stimmte hier nicht. Etwas ganz und gar nicht. Und diese Hefte… Was verbarg sie dort? Welche Geister besuchten sie nachts?
Am Morgen beschloss ich, das Wohnzimmer zu putzen. Hinter dem alten Schrank fand ich einen Schatz – Dutzende von schwarz-weißen Fotos, die wie Herbstblätter verstreut lagen.
Auf einem von ihnen war ein junges Mädchen mit Zöpfen, in einem einfachen Kleid. Auf der Rückseite verblasste Tinte: „Leningrad, 1942“.
„Was suchen Sie da?“, erklang die Stimme von Elisabeth Sergejewna hinter mir.
„Entschuldigung, ich… wische nur Staub…“
„Ah, Fotos gefunden?“ Sie kam näher, sich auf den Stock stützend. „Neugierig, was?“
„Sind das Sie?“, hielt ich ihr das Bild hin.
„Ich,“ sie nahm das Foto, und ihre Finger zitterten leicht. „Aber das war lange her. In einem anderen Leben.“
Ich fuhr mit dem Staubwischen fort, aber aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie sich wieder ins Sessel setzte, das Foto immer noch in der Hand. Ihre Lippen bewegten sich, ohne ein Wort zu machen.
In der Nacht wiederholte sich alles.
„Anja, halt durch! Noch ein bisschen…“, die Stimme von Elisabeth Sergejewna brach, als sie den Satz fast heulte. „Hunde… Oh Gott, nur nicht die Hunde!“
Ich stürzte ins Zimmer. Sie saß im Bett und hielt sich verzweifelt die Decke fest.
„Elisabeth Sergejewna, wachen Sie auf! Es ist nur ein Traum!“
„Was?“ Sie blinzelte und fokussierte ihren Blick. „Ach, Sie sind es… Habe ich wieder geschrien?“
„Ja, Sie sprachen von Anja und…“
„Nicht mehr,“ schüttelte sie den Kopf. „Holen Sie einfach Wasser.“
Als ich mit dem Glas zurückkam, begann sie plötzlich zu reden:
„Wissen Sie, was echter Hunger ist? Nicht, wenn man sagt: ‘Oh, ich habe das Abendessen vergessen’, sondern wenn man das letzte Mal vor drei Tagen gegessen hat?“
Ich schüttelte wortlos den Kopf.
„Gott bewahre, dass Sie es je erfahren,“ trank sie einen Schluck Wasser. „Gehen Sie schlafen. Morgen früh geht’s los.“
Am nächsten Tag fand ich ein Tagebuch. Es lag in einer alten Schachtel, versteckt unter einem Stapel vergilbter Zeitungen.
Ich weiß, es ist nicht schön, in fremden Aufzeichnungen zu lesen, aber… Ich konnte nicht widerstehen.
„14. Februar 1942.
Heute haben wir Tante Mascha begraben. Eigentlich nicht begraben – wir hatten keine Kräfte, ein Grab zu schaufeln. Wir haben sie einfach in den Schneehaufen gelegt.
Im Frühling werden sie sie finden… wenn sie sie finden. Seit vier Tagen kein Brot. Die Kinder weinen kaum – sie haben keine Kraft mehr. Anja hält noch durch, aber ihre Augen… Mein Gott, diese Augen…“
„Was tun Sie da?“
Ich zuckte erschrocken zusammen. Elisabeth Sergejewna stand in der Tür, gestützt auf ihren Stock.
„Entschuldigung, ich…“, stammelte ich. „Ich wollte nur verstehen…“
„Verstehen?“, ihre Stimme klang müde. „Wie Menschen zu Tieren werden? Wie eine Mutter das letzte Stück Brot isst, während ihre Kinder vor Hunger sterben?
Oder wie sich die Hüllen der Menschen auf den Straßen zu einem normalen Stadtbild entwickeln?“
Sie kam näher und nahm mir das Tagebuch aus der Hand.
„Ich war sechzehn. Genau so ein Dummkopf, wie Sie jetzt. Ich dachte, diese Kriege sind wie im Kino: schöne Heldentaten, wehende Fahnen…“
Ein bitteres Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Aber es ist, wenn du Suppen aus Lederbändern kochst. Wenn du über den Ladoga-See gehst und der Eis unter deinen Füßen bricht.
Und du weißt – dort unter dem Eis liegen schon Hunderte von uns…“
Sie verstummte, betrachtete das Tagebuch.
„Anja war zwei Jahre jünger als ich. Ich fand sie in einem zerstörten Haus. Ihre Eltern waren tot, sie war allein… Ich nahm sie bei mir auf. Ich dachte, zu zweit wäre es leichter. Und dann…“
„Was ist passiert?“
„Evakuierung. Wir gingen über das Eis. Sie konnte kaum noch gehen. Ich schleppte sie, sagte – schlaf nicht ein, halt durch…“ Ihre Stimme brach. „Es waren nur noch hundert Meter bis zum Ufer. Nur hundert Meter…“
Im Raum herrschte eine Stille, die so dick war, dass man sie fast anfassen konnte.
„Wissen Sie, was das Schlimmste war?“ Sie sah mir plötzlich direkt in die Augen. „Es war nicht der Hunger. Nicht die Kälte. Es war, dass man sich daran gewöhnt.
An den Menschen auf der Straße. Daran, dass die Leute Katzen essen. Daran, dass deine Freundin gestern noch lebte und heute…“ Sie winkte ab. „Und Sie reden von ‘verstehen’…“
Ich sah diese kleine, zierliche Frau an und versuchte mir vorzustellen, wie sie als junges Mädchen ihre Freundin auf dem Eis des Ladoga-Sees schleppte. Wie viel Kraft musste in diesem zerbrechlichen Körper stecken?
„Elisabeth Sergejewna, könnte ich… Könnte ich uns einen Tee machen? Und Sie erzählen mir noch mehr, wenn Sie wollen, natürlich.“
Sie schwieg eine Weile und nickte dann:
„Nur keinen Tee. Kaffee. Und holen Sie aus dem Schrank den Konjak. Solche Geschichten werden nicht trocken erzählt.“
Wir saßen bis zum Morgen. Sie erzählte, ich hörte zu. Von Anja, von den Straßen von Leningrad, von einem Leben, das so weit entfernt war und doch so nahe schien.
„Und das Brot?“ fragte ich irgendwann.
„Es hat nie genug Brot gegeben. Es gibt nie genug Brot.“