Als Tochter der einflussreichen Longstaff-Familie war Kate seit ihrer Kindheit darauf gedrillt, perfekt zu sein. Fehler waren keine Option, Zweifel ein Tabu. Doch an jenem Tag, als sie auf den Stufen eines glänzenden Bürogebäudes stand, begann ihr sorgsam geführtes Leben zu bröckeln – durch die Worte eines Mannes, dessen Verzweiflung ihre eigene Welt auf den Kopf stellte.
Der Morgen begann wie immer: mit kühler Präzision. Die Sonne warf zarte Strahlen in Kates Zimmer, und sie öffnete ihre Augen in einer Welt, die so geordnet war, wie sie es gewohnt war. Kein Buch lag schief im Regal, kein Kleidungsstück war deplatziert. Alles hatte seinen Platz, genauso wie Kate selbst – oder so dachte sie.
Heute trug sie einen elfenbeinfarbenen Blazer und eine schlichte goldene Brosche, deren Glanz an die makellose Fassade ihrer Familie erinnerte. Sie stand vor dem Spiegel, strich eine widerspenstige Haarsträhne zurück und fragte sich, warum das Bild, das sie sah, so leer wirkte.
Im Esszimmer saßen ihre Eltern, Julia und Charles Longstaff, wie zwei elegante Porträtfiguren. Das Frühstück war perfekt angerichtet: goldener Toast, glatter Orangensaft, und keine Krümel weit und breit. „Kate, deine Krawatte sitzt nicht ganz gerade,“ bemerkte Julia kühl, ohne aufzublicken.
„Ich werde es richten,“ sagte Kate mechanisch, während ihr Vater mit durchdringender Stimme hinzufügte: „Heute ist ein entscheidender Tag, Katherine. Denk daran, dass du nicht nur für dich selbst sprichst, sondern für den Namen Longstaff.“ Kate nickte, ihre Kehle schnürte sich zu. Sie hatte diese Worte so oft gehört, dass sie wie ein Echo in ihrem Kopf widerhallten.
Aber heute fühlte sich etwas anders an. Ein unsichtbarer Druck lastete auf ihr, schwerer als je zuvor. Vor dem großen Bürogebäude hielt Kate inne. Ihre Hände klammerten sich an die Ledertasche, die sie trug, als wäre sie ein Anker. Sie atmete tief durch, aber der Druck in ihrer Brust wollte nicht weichen.
Ein Geräusch hinter ihr ließ sie aufschrecken. Ein Mann, mit grauem Haar und abgetragener Kleidung, stand unsicher in ihrer Nähe. Seine Augen, müde und zugleich voller Sehnsucht, fixierten sie. „Verzeihung… bist du das?“ sagte er leise, seine Stimme rau. Kate runzelte die Stirn. „Ich glaube, Sie verwechseln mich.“
Doch der Mann trat einen Schritt näher, seine Hände zitterten leicht. „Nein… ich erkenne dich. Rosa. Du bist Rosa.“ Kate wich zurück. „Mein Name ist Kate. Ich denke, Sie haben sich geirrt.“ „Nein,“ flüsterte er mit brechender Stimme. „Dieser Leberfleck an deinem Hals… Ich würde ihn überall wiedererkennen. Du bist meine Tochter.“
Die Welt schien für einen Moment stillzustehen. Kates Atem stockte, während ihre Finger unwillkürlich den kleinen Leberfleck an ihrem Hals berührten – ein unscheinbares Detail, das kaum jemand kannte. „Das ist unmöglich,“ stieß sie hervor. „Meine Eltern sind Charles und Julia Longstaff. Wer sind Sie?“
Der Mann sah sie an, und in seinen Augen lag ein Schmerz, der tiefer ging, als Worte beschreiben konnten. „Ich bin Jakob. Und ich bin dein richtiger Vater.“ Kate schüttelte den Kopf. „Das ergibt keinen Sinn. Meine Eltern würden so etwas nicht verheimlichen.“ Jakob fuhr sich mit zitternden Händen durchs Haar, seine Stimme voller Emotionen. „Sie haben dich uns weggenommen.
Deine Mutter, Clara, und ich… wir hatten nichts, aber wir hatten dich. Dann kamen die Longstaffs. Sie haben uns Geld angeboten, viel Geld, weil sie kein eigenes Kind bekommen konnten. Aber Clara hat es nicht übers Herz gebracht, dich herzugeben. Sie wollte kämpfen, wollte dich bei uns behalten.“ „Was ist passiert?“ flüsterte Kate, ihre Stimme kaum hörbar.
Jakob holte tief Luft. „Clara ist bei deiner Geburt gestorben. Und bevor ich dich überhaupt halten konnte, haben sie dich mitgenommen. Sie haben gesagt, ich hätte kein Recht auf dich. Sie haben mein Leben zerstört, aber du… du hattest eine Chance, glücklich zu sein. Ich habe nie aufgehört, nach dir zu suchen.“
Kates Kopf drehte sich. Sie wollte glauben, dass es eine Lüge war, doch etwas in Jakobs Augen – dieser Schmerz, diese Ehrlichkeit – ließ ihre Zweifel bröckeln. „Ich… ich muss mit ihnen reden,“ stammelte sie, während ihre Gedanken in alle Richtungen liefen. Im Büro wurden Kates Eltern bereits ungeduldig.
Sie standen wie Statuen im Empfangsbereich, ihre Gesichter maskenhaft und angespannt. „Wo warst du?“ fragte Charles streng. „Dein Termin beginnt in wenigen Minuten!“ Kate ignorierte die Kälte in seiner Stimme und hielt inne. „Wir müssen reden. Jetzt.“ „Kate, nicht jetzt,“ begann Julia, doch Kate ließ sich nicht abwimmeln.
„Bin ich wirklich eure Tochter?“ fragte sie, ihre Stimme bebend, aber fest. Julia und Charles erstarrten. Ihre Reaktion war Antwort genug. „Wer hat dir das gesagt?“ fragte Charles scharf, seine Augen blitzten vor Ärger. „Jakob,“ sagte Kate mit bebender Stimme. „Er hat mir alles erzählt. Von Clara. Von euch. Von dem, was ihr getan habt.“
„Jakob ist ein Niemand,“ zischte Charles. „Er hat keine Ahnung, was für ein Leben wir dir gegeben haben. Alles, was du bist, verdankst du uns.“ Kate schüttelte den Kopf, Tränen liefen ihr über die Wangen. „Aber ihr habt mich belogen. Ihr habt mich meiner wahren Familie weggenommen.“
Julia versuchte, sie zu beruhigen. „Kate, wir haben dich gerettet. Du wärst in Armut aufgewachsen. Wir haben dir die Welt zu Füßen gelegt!“ „Und dafür sollte ich dankbar sein?“ Kates Stimme brach. „Ich hätte lieber weniger gehabt, aber dafür Liebe und Ehrlichkeit. Ihr habt mir alles gegeben – außer die Wahrheit.“
Charles trat vor. „Hör zu, Mädchen. Du bist eine Longstaff, und das ist alles, was zählt. Jakob ist Vergangenheit. Deine Zukunft ist hier.“ Kate wischte sich die Tränen ab und hob das Kinn. „Meine Zukunft gehört mir, und nicht euch. Ich werde herausfinden, wer ich wirklich bin. Und ich werde Jakob helfen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging, ohne zurückzublicken.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich frei – und bereit, den Menschen zu entdecken, der sie wirklich war.