Die Regentropfen prasselten wie Trommelschläge auf die Straßen, während ich durch die Dämmerung rannte. In der Ferne hörte ich ein dünnes, panisches Schluchzen – das Weinen eines Kindes. Mein Blick schoss in die Richtung des Geräuschs, und da sah ich sie:
ein kleines Mädchen, allein mitten auf der Fahrbahn, während Scheinwerfer bedrohlich um die Kurve auf sie zueilten. „Bleib stehen!“ Meine Stimme war rau, durchdrungen von der drängenden Angst in meiner Brust. Ohne nachzudenken ließ ich alles stehen und sprintete los. Mein Herz pochte wie wild, die Welt um mich herum wurde zu einem Tunnel.
Sekunden später zischte ein Auto an uns vorbei, Reifen quietschten, Wasser spritzte – doch ich hatte sie in Sicherheit gezogen. Das Mädchen klammerte sich an meinen Jackenärmel, ihr Körper bebte wie ein zitterndes Blatt. Ihre großen braunen Augen, vom Regen und Tränen verschleiert, blickten mich voller Panik an.
„Ich… ich hab mich verlaufen,“ flüsterte sie mit einer Stimme, die fast im Regen unterging. „Es ist alles gut,“ sagte ich und zog sie sanft hoch. „Ich bring dich nach Hause.“ Ihr zitternder Finger deutete in die Dunkelheit. „Das große Haus… bei Oma. Mit den großen Bäumen.“
Wir kämpften uns durch den Regen, und bald wurde mir klar, was sie meinte. Vor uns erhob sich ein beeindruckendes Anwesen, ein Herrenhaus, das in der Dunkelheit fast mystisch wirkte. Die hohen Bäume ringsum wiegten sich wie alte Wächter im Wind, und das Licht der Laternen schimmerte auf der nassen Auffahrt.
Bevor wir die schweren Holztüren erreichten, öffneten sie sich wie von Zauberhand. Eine Frau mit silbernem Haar, die trotz der eleganten Linien ihres Gesichts pure Sorge ausstrahlte, stürmte heraus. „Emma!“ Ihre Stimme brach fast, als sie das Kind in die Arme schloss. „Oh Gott, wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“
„Ich wollte nur den Hund finden,“ murmelte das Mädchen und versteckte ihr Gesicht in der Schulter der Frau. Die Frau sah zu mir, ihre Augen füllten sich mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Überraschung. „Sie haben sie gefunden? Bitte, kommen Sie rein. Ich danke Ihnen von Herzen.“
Im Inneren des Hauses fühlte ich mich, als hätte ich eine andere Welt betreten. Kristalllüster warfen funkelndes Licht über hohe Decken, antike Möbel sprachen von längst vergangenen Zeiten, und überall hingen Gemälde – Porträts, deren Augen einem zu folgen schienen.
Doch eines dieser Gemälde ließ mich stocken. Es war ein Porträt eines Mannes, der mir bis ins kleinste Detail glich. Mein Herz begann schneller zu schlagen, meine Gedanken überschlugen sich. „Er sieht aus wie Sie, nicht wahr?“ Die Stimme der Frau, die sich als Helena vorstellte, klang fast ehrfürchtig. „Das ist mein Bruder Richard. Er verschwand vor Jahrzehnten.“
Ich trat näher an das Bild heran, studierte die markanten Züge, die dunklen Augen, das schelmische Lächeln. „Wer war er?“ fragte ich, fast flüsternd. Helena senkte den Blick. „Richard war … ein Freigeist. Er hasste Verantwortung, wollte die Welt sehen, träumte von Abenteuern. Unser Vater war ein strenger Mann, und Richard wollte sich nicht in Ketten legen lassen.
Eines Nachts verschwand er einfach. Er hat nie wieder einen Fuß in dieses Haus gesetzt.“ Ich zögerte, meine Gedanken wirbelten wie Blätter im Sturm. „Ich weiß nicht, warum… aber mein Vater hat uns verlassen, als ich klein war. Meine Mutter hat nie über ihn gesprochen. Es war, als wäre er ein Geheimnis, das nie gelüftet werden durfte.“
Helena sah mich mit einem Blick an, der gleichzeitig neugierig und voller Hoffnung war. „Vielleicht klingt es verrückt, aber … würden Sie einen DNA-Test machen? Es gibt zu viele Ähnlichkeiten, um es zu ignorieren.“ Ich stimmte zu, mehr aus Neugier als aus Hoffnung. Zwei Wochen später saßen wir wieder in ihrem prunkvollen Wohnzimmer.
Ich hielt den Brief mit den Ergebnissen in Händen, mein Herz schlug wie ein Trommelwirbel, als ich die Worte las, die mein Leben für immer verändern würden. „Er war Ihr Vater,“ flüsterte Helena schließlich, ihre Stimme brach vor Emotionen. „Richard war Ihr Vater. Sie… Sie sind mein Neffe!“ Ich erstarrte, die Realität brach wie eine Flutwelle über mich herein.
Familie? Mein Vater? All die Fragen, die mich mein Leben lang gequält hatten, fanden plötzlich Antworten. In diesem Moment stürmte Emma mit einem Stofftier in der Hand herein. „Oma, kann Logan bleiben? Er ist mein Held!“ Helena lachte durch ihre Tränen, zog sie in die Arme und strahlte mich an. „Natürlich, mein Schatz. Logan bleibt. Er ist Familie – wirklich Familie.“
Ich kniete mich zu Emma hinunter, legte eine Hand auf ihre kleine Schulter. „Ja, Emma. Ab jetzt bin ich immer hier.“ Und plötzlich fühlte ich mich nicht mehr wie ein Fremder auf einer Suche. Ich fühlte mich angekommen. Zuhause.