Als ich Karen zum ersten Mal zusagte, Emily, ihre Tochter, auf dem Weg zur Schule mitzunehmen, dachte ich, es wäre eine einmalige Sache. Schließlich hilft man seinen Nachbarn, oder? Aber was als höfliche Geste begann, entwickelte sich schnell zu einem täglichen Ärgernis – und einer Lektion darüber, was es bedeutet, Grenzen zu setzen.
Es war ein Montagmorgen, als Karen das erste Mal an meine Tür klopfte. „Lena, hi! Es tut mir so leid, dich so früh zu stören“, begann sie und lächelte, als hätte sie bereits eine Entschuldigung parat. Ich stand in der Küche, immer noch halb schlafend, während Sophie, meine achtjährige Tochter, in ihrem Zimmer ihre Schultasche packte.
Mein Kaffee war noch zu heiß, um ihn zu trinken, und meine Gedanken waren genauso träge wie meine Bewegungen. „Kein Problem, Karen. Was gibt’s?“ fragte ich, als ich die Tür öffnete. „Ich bin heute etwas im Stress und dachte, vielleicht könntest du Emily auf dem Weg zur Schule mitnehmen? Sie und Sophie verstehen sich doch so gut, und es wäre wirklich eine riesige Hilfe.“
Natürlich sagte ich ja. Emily war höflich, und Sophie würde sich freuen, ihre Freundin dabei zu haben. Es schien eine Win-win-Situation zu sein. Doch es blieb nicht bei diesem einen Mal. Am nächsten Morgen stand Karen wieder vor meiner Tür. Und am übernächsten. Immer mit dem gleichen Lächeln, immer mit der gleichen Frage.
„Lena, ich weiß, es ist viel verlangt, aber könntest du Emily auch heute wieder mitnehmen?“ Ich konnte nicht Nein sagen – zumindest nicht sofort. Wochen vergingen, und Karen tauchte jeden Morgen auf, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Anfangs dachte ich mir nicht viel dabei, doch irgendwann fühlte es sich an, als hätte ich plötzlich zwei Kinder.
Es war ein Freitag, als mir der Kragen platzte. Der Morgen war ein einziges Chaos: Sophie konnte ihren Lieblingspullover nicht finden, unser Hund hatte das Frühstück umgeworfen, und ich selbst hatte nicht einmal Zeit gehabt, meine Haare zu bürsten. Da vibrierte mein Handy.
„Hey Lena, kannst du Emily heute wieder mitnehmen? Danke dir! 😊“ Dieser Smiley. Es war, als wäre er das Sahnehäubchen auf meiner wachsenden Frustration. Ich atmete tief durch und schrieb zurück: „Tut mir leid, Karen, aber ich bin heute wirklich spät dran. Kannst du Sophie vielleicht ausnahmsweise mitnehmen?“
Die Antwort kam prompt: „Oh, sorry, mein Auto ist voll.“ Voll? Karen fuhr einen SUV, der problemlos eine Fußballmannschaft transportieren könnte. Und trotzdem war „kein Platz“ für Sophie? Das war der Moment, in dem ich beschloss, die Dinge zu ändern.
Am nächsten Morgen stand Karen, wie erwartet, wieder vor meiner Tür. „Lena, ich hoffe, es ist okay, wenn Emily heute wieder mitfährt?“ Ich lächelte so freundlich wie möglich. „Klar, kein Problem.“ Doch an diesem Tag lief nicht alles wie gewohnt. „Sophie“, rief ich, „was hältst du davon, dass wir heute Morgen einen kleinen Umweg machen und uns Croissants holen?“
„Echt jetzt?“ rief sie begeistert. „Ja, nur heute. Ein kleiner Freitagmorgen-Genuss.“ Sophie war begeistert, und ich wusste, dass Emily sich anpassen musste. Wir fuhren los, und anstatt zur Schule zu fahren, hielt ich an einer kleinen Bäckerei, die für ihre frischen Croissants bekannt war. Emily sah mich irritiert an. „Ähm, Frau Schneider? Kommen wir dann nicht zu spät zur Schule?“
„Vielleicht ein bisschen“, antwortete ich fröhlich. „Aber das Frühstück ist genauso wichtig wie Pünktlichkeit.“ Wir aßen in Ruhe, genossen die Croissants und plauderten über Sophies Pläne für das Wochenende. Die Minuten verstrichen, und ich wusste, dass die Schule längst angefangen hatte. Aber das war mir egal.
Als ich die Mädchen schließlich absetzte, war der Parkplatz fast leer. Sophie schien die ganze Aktion toll zu finden, aber Emily wirkte verunsichert. Zu Hause wartete Karen bereits auf mich. Sie stand auf ihrem Balkon, die Arme verschränkt, die Augen voller Ungeduld. „Lena, warum war Emily heute zu spät?“ fragte sie, sobald ich aus dem Auto stieg.
Ich zuckte mit den Schultern. „Oh, wir haben einen kleinen Zwischenstopp gemacht. Es war so ein schöner Morgen, da dachte ich, warum nicht?“ Karen starrte mich an, sprachlos. Schließlich schüttelte sie den Kopf und verschwand wortlos in ihrem Haus. Von diesem Tag an hörten die Nachrichten von Karen auf.
Emily wurde pünktlich von ihrer Mutter zur Schule gebracht, und ich genoss wieder entspannte Morgende mit Sophie. Ich hatte meine Lektion gelernt: Freundlichkeit ist wichtig, aber sie endet dort, wo andere beginnen, sie auszunutzen.